Orgelchoräle aus der Leipziger Originalhandschrift an der
König-Orgel in der Paterskirche
Meditative Ruhe, Leiden und Höllenpein
KEMPEN (RP). Das Bach-Jahr 2000 in Kempen konnte am verregneten
Sonntag ein weiteres Hoch verzeichnen. Die großen Orgelchoräle aus
der Leipziger Zeit die in Bachs Originalhandschrift vorliegen,
standen gleich zweifach auf dem Programm. Am Nachmittag erläuterte
Dr. Peter Wollny vom Bach-Archiv Leipzig die Entstehungsgeschichte,
am Abend folgte die Interpretation der Choralbearbeitungen durch Ute
Gremmel-Geuchen an der König-Orgel der Paterskirche.
Der kriminalistische Spürsinn, mit dem Musikwissenschaftler ans
Werk gehen, ist beeindruckend. Neben der Handschrift selbst werden
Papier, die Schreibweise einzelner Noten, Notenhälse und
Notenschlüssel verglichen, um am Ende das Entstehungsjahr eines
Werkes, Verbindungen zu früheren Fassungen, den Namen eines Kopisten
und vieles mehr mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit angeben zu
können. Trotz aller wissenschaftlichen Strenge und Akribie, die
Wollny verdeutlichte, bleiben Bachs Werke aus diesem Blickwinkel
betrachtet weitgehend tote Materie.
Vielfältige Beziehungen
Ein Konzert ausschließlich mit Choralbearbeitungen Bachs zu
bestreiten, ist ein Unternehmen, bei dem der Interpret weit weniger
glänzen kann als bei der Beschäftigung mit Praeludien, Fugen oder
Toccaten. Liegt bei den großen freien Werken Bachs der Reiz
wohldosiert zwischen Virtuosität und Kontrapunktik, so kommt es bei
den Choralbearbeitungen auf die Detailarbeit an. Die Attraktivität
dieser Werke ist in den vielfältigen textlich-musikalischen
Beziehungen und in der abwechslungsreichen und genialen
Kompositionstechnik zu finden.
Ute Gremmel-Geuchen ist für ihre Darstellung der 17 Leipziger
Choräle hohe Anerkennung auszusprechen. Der Interpretin gelang es,
die Werke durch ihre gewissenhafte Gestaltung der musikalischen
Details, durch wohlüberlegte Registrierungen, durch flexible
Gestaltung der Tempi, durch Artikulation und Phrasierung so
voneinander abzusetzen, dass jeder Choral mit Spannung erwartet
wurde.
Vor allem die in dieser Sammlung enthaltenen Trios - so. z. B.
"Komm, Heiliger Geist, Herre Gott" BWV 652 oder die Bearbeitungen
von "Allein Gott in der Höh" - bewirkten durch ihr ruhiges
Dahinfließen und den immer wieder hervortretenden Cantus firmus
meditative Ruhe, bei der auch die im Programm abgedruckten Texte
überdacht werden konnten.
Demgegenüber stachen die in kerniger Zungenregistrierung
gehaltenen Choräle wie "Nun danket alle Gott" (BWV 657) oder "Jesus
Christus, unser Heiland" (BWV 665) heraus, wo Bach sich zu
atemberaubender Chromatik hinreißen lässt, um Leiden und Höllenpein
zu verdeutlichen.
Den 18., wenn auch nicht von Bach selbst aufgeschriebenen Choral
"Vor deinen Thron tret` ich hiermit" gab Ute Gremmel-Geuchen als
Zugabe, womit sie das überaus gehaltvolle und beachtenswerte Konzert
abrundete.
Von ALFONS MUSOLF |